Wenn Staatsferne zur Fiktion wird
Eine Analyse am Beispiel von Malu Dreyer
Bundesverfassungsgericht: Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 25. März 2014
– 1 BvF 1/11 –
– 1 BvF 4/11 –
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Die Zusammensetzung der Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG am Gebot der Vielfaltsicherung auszurichten. Danach sind Personen mit möglichst unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungshorizonten aus allen Bereichen des Gemeinwesens einzubeziehen.a) Der Gesetzgeber hat dafür zu sorgen, dass bei der Bestellung der Mitglieder dieser Gremien möglichst unterschiedliche Gruppen und dabei neben großen, das öffentliche Leben bestimmenden Verbänden untereinander wechselnd auch kleinere Gruppierungen Berücksichtigung finden und auch nicht kohärent organisierte Perspektiven abgebildet werden.b) Zur Vielfaltsicherung kann der Gesetzgeber neben Mitgliedern, die von gesellschaftlichen Gruppen entsandt werden, auch Angehörige der verschiedenen staatlichen Ebenen einbeziehen.
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Die Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks muss als Ausdruck des Gebots der Vielfaltsicherung dem Gebot der Staatsferne genügen. Danach ist der Einfluss der staatlichen und staatsnahen Mitglieder in den Aufsichtsgremien konsequent zu begrenzen.a) Der Anteil der staatlichen und staatsnahen Mitglieder darf insgesamt ein Drittel der gesetzlichen Mitglieder des jeweiligen Gremiums nicht übersteigen.b) Für die weiteren Mitglieder ist die Zusammensetzung der Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks konsequent staatsfern auszugestalten. Vertreter der Exekutive dürfen auf die Auswahl der staatsfernen Mitglieder keinen bestimmenden Einfluss haben; der Gesetzgeber hat für sie Inkompatibilitätsregelungen zu schaffen, die ihre Staatsferne in persönlicher Hinsicht gewährleisten.
I. Die medienpolitische Karriere von Malu Dreyer – zwischen Rundfunkgesetzgeberin und Rundfunkaufsicht
Kaum eine Politikerin verkörpert die medienpolitische Doppelrolle zwischen Staat und Rundfunk so deutlich wie Malu Dreyer (SPD).
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Seit 2013: Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz – damit Mitglied des Bundesrates und Repräsentantin eines der Länder, die gemeinsam das Rundfunkrecht durch Staatsverträge gestalten.
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2013–2023: Vorsitzende der Rundfunkkommission der Länder, also jenes Gremiums, das die Staatsverträge des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ZDF-Staatsvertrag, ARD-Staatsvertrag, Medienstaatsvertrag) entwirft, verhandelt und fortschreibt.
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Seit 2021: Vorsitzende des Verwaltungsrats des ZDF, eines der beiden zentralen Aufsichtsgremien, die über Haushaltsführung, Personalentscheidungen und Strukturfragen des Senders wachen.
Damit ist Dreyer über ein Jahrzehnt hinweg gleichzeitig Gesetzgeberin, Vollzugsaufsicht und Kontrollelement desjenigen Systems, das sie politisch mitgestaltet hat. Diese Kumulation von Rollen ist kein persönliches Fehlverhalten, sondern ein Symptom eines strukturellen Problems, das das deutsche System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks seit Jahrzehnten prägt.
II. Der rechtliche Hintergrund – das BVerfG-Urteil zur Staatsferne des Rundfunks
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits im ZDF-Urteil vom 25. März 2014 (1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11) die Grundregel aufgestellt:
„Der Staat darf nicht über die Rundfunkanstalten herrschen, auch nicht mittelbar. Die Gremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks müssen staatsfern zusammengesetzt sein; staatliche und staatsnahe Vertreter dürfen höchstens ein Drittel der Mitglieder stellen.“
Dieses Urteil zwang die Länder, den ZDF-Staatsvertrag zu ändern. Formal wurde die Drittelquote eingeführt. Doch materiell blieb vieles beim Alten: dieselben Staatskanzleien, dieselben Rundfunkreferenten, dieselben ehemaligen Regierungsmitglieder besetzen seither die Gremien.
Der Vorsitz des ZDF-Verwaltungsrats durch Malu Dreyer ist das prominenteste Beispiel dafür, dass strukturelle Staatsnähe fortbesteht, obwohl die Verfassung Staatsferne fordert.
III. Die unauflösbare Rollenkollision – wenn Politik sich selbst kontrolliert
Wer das Rundfunkrecht erlässt (über die Rundfunkkommission),
wer es überwacht (im Verwaltungsrat)
und wer zugleich politische Kommunikation im eigenen Land verantwortet,
vereint drei Machtfunktionen in einer Hand.
Diese institutionelle Selbstbezüglichkeit führt zu einer systemischen Interessenkollision:
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Normsetzung und Kontrolle verschwimmen. Die Rundfunkkommission verhandelt die rechtlichen Rahmenbedingungen, die unmittelbar die Handlungsfreiheit der Anstalten bestimmen – Budgetierung, Auftragsdefinition, Beitragsstruktur. Dieselben Akteure kontrollieren später die Umsetzung im Verwaltungsrat.
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Fehlende Distanz zur Exekutive. Wenn eine amtierende Ministerpräsidentin zugleich Aufsichtsvorsitzende einer Rundfunkanstalt ist, wird die Grenze zwischen Staatsaufsicht und Staatsferne faktisch aufgehoben. Das Bundesverfassungsgericht wollte gerade diese Durchdringung verhindern.
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Politische Prägung der Personalpolitik. Der Verwaltungsrat hat Mitentscheidungsrechte bei der Berufung von Intendant, Programmdirektor und Chefredakteur. Damit beeinflussen politisch besetzte Aufsichtsgremien indirekt, wer die publizistische Linie des Senders prägt.
Das Ergebnis ist eine Doppelstruktur der Kontrolle, in der sich Politik selbst beaufsichtigt – ein Widerspruch zum Grundgedanken des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG.
IV. Die Illusion der Drittelquote – formale Staatsferne, faktische Staatsnähe
Zwar erfüllt das ZDF formal die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Anteil staatlicher und staatsnaher Mitglieder auf ein Drittel begrenzt ist. Doch die Machtkonzentration im Vorsitz des Verwaltungsrats kompensiert diese Begrenzung:
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Die Vorsitzende leitet die Sitzungen, setzt Tagesordnungen fest, führt in Ausschüsse ein und repräsentiert das Gremium nach außen.
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Ihre politische Erfahrung und ihr Regierungsamt verleihen ihr ein strukturelles Übergewicht gegenüber den staatsfernen Mitgliedern.
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Damit entsteht eine faktische Mehrheit der Exekutive im Meinungsbildungsprozess, selbst wenn die formale Zählquote eingehalten wird.
Diese Situation verdeutlicht: Staatsferne ist nicht bloß eine Frage der Zahlen, sondern der tatsächlichen Machtverhältnisse.
V. Der systemische Befund
Das Beispiel Malu Dreyer steht pars pro toto für ein System, in dem:
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die politische Exekutive die Rundfunkverträge entwirft,
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die gleichen politischen Akteure über die Einhaltung dieser Verträge wachen,
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und der Beitragszahler ein System finanziert, dessen Unabhängigkeit strukturell eingeschränkt bleibt.
Es handelt sich nicht um individuelle Fehlsteuerung, sondern um ein systemisches Versagen der Gewaltenteilung im Rundfunkbereich.
Die Folge: Das Vertrauen in die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks schwindet – nicht wegen einzelner Sendungen, sondern wegen der institutionellen Architektur, die Staatsnähe perpetuiert.
VI. Konsequenz: Reformbedarf jenseits kosmetischer Änderungen
Wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk seiner demokratischen Funktion – Meinungsvielfalt, kritische Distanz, Kontrolle der Macht – gerecht werden soll, muss die Verzahnung zwischen Politik und Rundfunkgremien aufgelöst werden.
Eine echte Reform erfordert:
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Klare Trennung zwischen normsetzender und kontrollierender Funktion. Kein Regierungsmitglied oder ehemaliger Ministerpräsident darf ein Aufsichtsgremium leiten.
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Transparente Auswahl staatsferner Mitglieder. Bürgerliche, wissenschaftliche und kulturelle Vertreter müssen tatsächlich unabhängig sein.
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Stärkung der internen Kontrollmechanismen. Ombudsstellen, Ethikräte und öffentliche Sitzungen könnten das Vertrauen der Beitragszahler wiederherstellen.
VII. Fazit
Das Beispiel Malu Dreyer ist kein persönlicher Vorwurf, sondern eine juristisch-ökonomische Diagnose:
Die Rundfunklandschaft in Deutschland leidet an einer strukturellen Machtverflechtung, die dem Ideal der Staatsferne widerspricht.
Solange dieselben Akteure die Rundfunkordnung schaffen, beaufsichtigen und kommunikativ nutzen, bleibt der öffentlich-rechtliche Rundfunk kein unabhängiges Medienhaus, sondern ein öffentlich-rechtlich verwaltetes Kommunikationsinstrument – verfassungsrechtlich bedenklich und politisch riskant.